Anteil privater Briefe am Postaufkommen um 1850, Alphabetisierungsquote

  • Liebe Freunde,

    Für ein paar Tage mehr oder minder zu horizontaler Beschäftigung (nicht zum horizontalen Gewerbe!!!) verurteilt, gehen mir den ganzen Tag die komischsten Ideen durch den Kopf. So die Frage, wie hoch eigentlich um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Bayern der Anteil von echten Privatbriefen, also von Privatperson an Privatperson, war. Ich habe darüber vor Jahren einmal gelesen und eine auf den ersten Blick lächerlich geringe Zahl von 10 oder 20 Prozent noch irgendwo im Hinterkopf. Die Alphabetisierungsquote lag ja damals doch schon bei um die 50%. Kann da einer von Euch mit einer Quelle weiterhelfen?

    Vielen Dank und viele Grüße von maunzerle :thumbup:

    "Ein Leben ohne Philatelie (und Katzen) ist möglich, aber sinnlos!" (frei nach Loriot, bei dem es allerdings die Möpse waren - die mit vier Beinen wohlgemerkt)

  • Lieber Peter,

    da wird man sich immer mit Schätzungen behelfen müssen. Die amtliche bayerische Statistik (ab 1850 auch in den "Nachweisungen" für das Verkehrswesen gedruckt) unterschied nur zwischen bezahlten und Dienstsendungen. Vor dem Erfolg der Gruß- und Ansichtskarten – also bereits in der Pfennigzeit – dürfte der Anteil rein privater Post sich in den von dir genannten Prozentbereichen bewegt haben (meine Meinung: eher am unteren als am oberen Ende). Die Post war den meisten Leuten schlicht und einfach zu teuer.

    Selbst die Kirche stellte in ihren Dekanaten eigene Boten an, weil es in deren Gebiet zu viele "Seitenorte" gab, die die Post gar nicht bediente. Und das bringt uns zu einem weiteren wichtigen Punkt: Das Leben der Menschen konzentrierte sich auf einen sehr kleinen Raum. Man darf zum Beispiel die Rolle der Pogroder (Hochzeitslader) oder Schmuser (Eheanbahner) nicht unterschätzen, die rein mündliche Kommunikationsinstitute waren. Die Post war also nicht nur zu teuer, sie war in vielen Fällen auch unnötig.

    Abgesehen von wenigen nennenswerten Wirtschaftszentren in Franken und Schwaben (meinetwegen noch Passau) herrschte in Bayern bis weit ins 19. Jahrhundert hinein nahezu reine Subsistenzwirtschaft, d.h. das Land ernährte sich aus sich selbst heraus. Was man zusätzlich brauchte, wurde in kleinen Stadt- und Marktorten hergestellt. Was über den eigenen Bedarf hergestellt wurde (Getreide, Textilien z.B.), fand über reisende Aufkäufer Absatz, die die Ware selbst spedierten.

    Die Krämer (allein in Erding ein Dutzend) waren so ziemlich die einzigen, die in solchen Orten regelmäßige Kontakte nach außen pflegten, wobei hier der auf Provision reisende Vertreter eine bedeutende Rolle spielte. Die Lieferung der bestellten Ware übernahmen wiederum Spediteure.

    Einen größeren Anteil am rein privaten Korrespondenzsektor könnten Briefe haben, die ihre Existenz Wanderungsbewegungen (Landflucht, Industrialisierung) und Auswanderungswellen verdanken.

    Vor allem: Was heißt "privat"? Die Hochzeitseinladung an die Gödin (für außerbayerische Lebewesen: Taufpatin) oder der Poste-restante-Brief mit Chiffre an eine Person, die in Diensten stand und den Job wechseln wollte, was aber keiner gneißen (hochdeutsch: spitzkriegen) sollte?

    Ein weites Feld ...

    Liebe Grüße aus Erding, mit den besten Wünschen für ein baldiges Ende der Notwendigkeit zur horizontalen Beschäftigung

    Viele Grüße aus Erding!

    Achter Kontich wonen er ook mensen!

  • Hallo Laurent, lieber Dietmar,

    Ich danke Euch für Euere Denkanstöße. Ich glaube, da wird nichts anderes übrig bleiben, als einmal ein paar hundert Briefe in dieser Richtung anzusehen, um da zu einem schlüssigen Ergebnis zu kommen. Das Problem ist halt, dass man es ihnen von außen nicht immer ansieht.

    Liebe Grüße von maunzerle :thumbup:

    "Ein Leben ohne Philatelie (und Katzen) ist möglich, aber sinnlos!" (frei nach Loriot, bei dem es allerdings die Möpse waren - die mit vier Beinen wohlgemerkt)

  • Hallo in die Runde

    wenn ich so meine MD-Belege bis Ende 1867 ansehen und das sind ca. 1000 Stück, so sind keine 2 Prozent davon Privatbriefe.

    Mit freundlichem Sammlergruss

    Ulf

  • wenn ich so meine MD-Belege bis Ende 1867 ansehen und das sind ca. 1000 Stück, so sind keine 2 Prozent davon Privatbriefe.

    Verehrte Sammlerkollegen,

    auch wenn ich keine genaue Aufstellung für Bayern bis etwa 1867 habe dürfte die genannte Menge von Magdeburger bei Bayern in etwa vergleichbar gewesen sein.
    Es ist durch die aukommende Industrialisireung eben doch häufig geschäftliche Korrespondenz gewesen, Rechnungen, DS, Avis, Ankündigungen, etc

    Aber wie gesagt, belastbare Zahlen (Primärliteratur) habe ich keine zur Verfügung und es wäre ein tolles Forschungsfeld, das der liebe maunzerle da aufgeworfen hat... :)

    Beste Grüsse von
    Bayern Social


    "Sammler sind glückliche Menschen"

  • Hallo allerseits,

    da mich die Frage ebenfalls umtreibt, gebe ich hier mal - trotz des Alters des Threads - meinen Senf auf meiner Perspektive dazu.

    Im editorischen Bereich in Bezug auf wissenschaftliche Briefeditionen wird gerne zwischen (Privat-)Brief und Schreiben unterschieden. (Vgl. Irmtraut Schmid: "Was ist ein Brief? Zur Begriffsbestimmung des Terminus 'Brief' als Bezeichnung einer quellenkundlichen Gattung". In: editio 2 (1988), S. 1-7.) Dabei wird vom Inhalt her unterschieden. Der Maßstab ist dabei die Motivation des Verfassens: Ist es eine 'externe', unfreiwillige Motivation, also das Schreiben an ein Amt oder in einer Geschäftssache, oder ist es eine 'interne', rein private Motivation zu Kommunikation? Problematisch werden dabei freilich etwa Kaufmannsbriefe, worin der geschäftliche und private Austausch häufig Hand in Hand gingen.

    Ein anderes Problem ist die Überlieferungslage: Welche Briefe werden überhaupt überliefert, welche gelangen in den Handel? Der Anzahl der (in Archiven und wissenschaftlichen Sammlungen) überlieferten 'Privat'briefe ist nicht gerade gering: Ein Blick in Kalliope (dem Gesamtkatalog aller beteiligten Archive) weist 2,3 Millionen (!) Exponate unter der Gattung 'Brief' auf, wenngleich dabei nicht zwischen Privat- und Geschäftsbrief geschieden wird. (Hier ein Link zum Katalog: Die Suche kann auch auf "digitalisierte Einträge" reduziert werden, sodass man schön stöbern kann: http://kalliope.staatsbibliothek-berlin.de/de/query?q=bri…&lastparam=true )

    Ein anderes spannendes, noch neueres Projekt versucht, sämtliche wissenschaftlich edierten Briefe zu verzeichnen und miteinander zu vernetzen; auch dieses weist bereits über 66.000 Einträge auf: https://correspsearch.net/?l=de

    Ich kann also die Frage nicht beantworten, aber vielleicht neue Impulse aus einer anderen Richtung geben.

    Beste Grüße

    Philia

  • Hallo Philia,

    danke für dein Engagement und die Links - toll!

    Es gibt statistische Angaben zu Bayern im 19. Jahrhundert in Buchform (Reprint), die sich auf die veröffentlichen Zahlen in den bayer. Verordnungsblättern (1842-75 habe ich sie) subsummieren und in Verwaltungebezirke untergliedern.

    Aus diesem Zahlenwerk gehen die Briefschaften der jeweiligen Quartale der Regierungsbezirke hervor. Eine Unterscheidung ist lediglich in Privatbriefe und Dienstbriefe getroffen worden.

    Eine Unterscheidung und quantitative Abschätzung des Zahlenwerks bzw. des Aufkommens, oder der Bestände rein privater Briefe (Vater an Sohn), von Geschäftsbriefen (Käufer an Verkäufer) und/oder reinen Dienstbriefen (Oberbehörde braucht etwas von einer Unter- oder Mittelbehörde ohne private Relevanz) zu treffen, maße ich mir auch nach über 40 Jahren intensiver Forschung und Sammelei nicht an.

    Liebe Grüsse vom Ralph

    "Der beste Platz für Politiker ist das Wahlplakat. Dort ist er tragbar, geräuschlos und leicht zu entfernen." Vicco von Bülow aka Loriot.


  • Hallo Philia,

    die Überlieferung ist natürlich ein zentrales Problem.

    Ich sammle jetzt seit ziemlich genau 20 Jahren alte Briefe aus meinem Heimatbereich. Aus der Zeit bis 1850 konnte ich drei eindeutig private, »intern motivierte« Briefe ergattern – und ich habe von Anfang an bewusst welche gesucht. Auch danach wird es kaum besser. Dienstbriefe gibt es reichlich, Kaufmannskorrespondenzen (letztere vor der Markenzeit praktisch nicht auffindbar) in größerer Anzahl erst ab den 1860er-Jahren.

    2006 habe ich die Tagebuchaufzeichnungen eines Erdinger Apothekers und zeitweiligen Bürgermeisters aus den Jahren 1811 bis 1842 ediert – das Wort »Brief« kommt darin praktisch nicht vor. Trotz großer Schreibfreudigkeit berichtet der Verfasser nie davon, dass er einen Brief geschrieben oder gar empfangen hätte. Nur einmal, in der Schlussphase der napoleonischen Zeit, heißt es, dass man gewisse Nachrichten aus Privatbriefen erfahren könne. Überwiegend informierte man sich aus Zeitungen (wobei man Abonnements teilte oder sich die Nachrichten im Gasthaus gegenseitig vorlas) und persönlichen Kontakten.

    In der Übergangsphase von der Taxisschen auf die Staatspost um 1808 schrieb ein hoher bayerischer Beamter, der die geschäftlichen Aussichten eines privaten Briefverkehrs einzuschätzen versuchte, in Altbayern sei außer München und Passau »alles Krämerey« [aus dem Gedächtnis zitiert]. Besonders aussichtsreich für eine gewinnträchtige Briefpost klang das nicht.

    Viele Grüße aus Erding!

    Achter Kontich wonen er ook mensen!

  • Sehr schön, mal eine allgemeine Diskussion ohne spezielle "Vorlage".

    Meiner Meinung nach ist alles "Kaffeesatzleserei". Die Gründe sind genannt. Wir können die Ursprungsanzahl(en) nie nicht ermitteln :(

    Hinweisen möchte ich auf die Empfänger der Brief(-hüllen) - Umschläge. Viele private Briefe stammen von Adeligen an Adelige (z.B. die "Auslage-Stempel-Briefe" an Rechteren-Limpurg-Speckfeld, Einersheim).

    Oder die Briefumschläge adressiert an Studenten, die sicherlich privat waren, oftmals mit Geld beschwert.

    Jedenfalls freut es mich, wenn jetzt doch mehr auf die Inhalte geachtet wird, wobei oftmals durch eine "Sauklaue" Briefe oft unlesbar sind. Da hilft manchmal der Gruß am Schluss des Briefes, um zu entscheiden, privat oder nicht, wie z.B. in meinem aktuellen Brief an Louise Prinzessin von Thurn und Taxis "in alter Liebe Dein Herrmann".

    Luitpold

    "Heimat ist da, wo ich verstehe und wo ich verstanden werde." (Karl Jaspers. dt. Philosoph).